Für einen Mittelschüler (heute: Gymnasiasten) in den Sechziger-Jahren war es üblich, einen Ferialjob zu suchen, um das damals fast für jeden Schüler knappe Taschengeld etwas aufzufetten. Neben mehr oder weniger wertschöpfender Arbeit lernte man dabei die reale Arbeitswelt kennen mitsamt Arbeitskollegen und deren Eigenarten. Lange suchen brauchte ich als Fünfzehnjähriger nicht: Mein Onkel, Besitzer eines zu der Zeit noch kleinen Kunststoffwerks sprach mich an, ob ich in der Produktion oder bei Lieferungen mithelfen und bei Bedarf auch den Telefondienst übernehmen könne.
Vor Arbeitsantritt hatte ich selbstredend höchsten Respekt vor dem, was mich da erwarten würde und ich wurde auch nicht enttäuscht. Die erste Aufgabe bestand darin, Meltallbügel in Kunststoffeimer einzustecken, was zweierlei Dinge erforderte: Einerseits Kraft und andererseits abgehärtete Hände, die den frisch aus der Spritzgussmaschine kommenden und daher heißen Eimern standhalten konnten. Beides besaß ich nicht, die ersten Versuche glichen deshalb eher einem Zweikampf zwischen Mensch und Materie. Aber mit der Zeit und nach Unterweisung in den nötigen Tricks durch meinen Vorgesetzten ging’s dann irgendwie doch.
Der Willi
Rasch lernte ich auch, dass im Arbeitsumfeld die unterschiedlichsten Charaktere tätig waren von einer Art, wie ich sie aus einem behüteten Familien- oder Bekanntenkreis nicht kannte. Da war etwa der Willi, bärenstark, aber von schlichter Einfalt. Er redete nicht viel, kompliziertere Aufträge oder gar anregende Unterhaltungen waren seine Sache nicht. Aber arbeiten konnte er, und wie! Schwere Säcke mit Kunststoffgranulat, die von einem LKW heruntergekippt worden waren und mich plattgemacht hätten, fing er mit der Schulter recht locker auf und trabte mit ihnen ins Materiallager, wo er sie schwungvoll auf einen Stapel warf.
Der Hans
Oder der Hans, der wie einige der Angestellten seine Tätigkeit als Nebenberuf ausübte. Hauptberuflich war er Gendarm (heute: Polizist), so wie mein Onkel eine Zeitlang nach dem Krieg und vor seiner Unternehmerkarriere, daher auch die Bekanntschaft der beiden. Hans zeichnete sich durch ein sehr kräftiges Stimmorgan aus, das ihm im Streifendienst sicher dienlich war, im Betrieb jedoch oft als deplatzierter Kommandoton aufgefasst wurde. Ich war ihm ein paar Jahre zuvor in seinem Hauptberuf begegnet: Um die Mittagszeit hatte er mich im Stadtgebiet beim Radfahren aufgehalten und mir mit einer Anzeige gedroht, weil mein Rad keinen Scheinwerfer montiert hatte. Die Anzeige kam nie und jetzt waren wir Kollegen.
Die Falle
Ein Erlebnis, in dem beide der Genannten eine Rolle spielen, habe ich nie vergessen. Hans und ich hatten den Auftrag, Eimerstapel aus einem externen Lager zurück in den Versand zu bringen. Der kleine hellblaue Transit-Lieferwagen, den Hans dazu pilotierte, hatte schon bessere Tage gesehen. Im Werk angekommen, holte ich die Stapel aus dem Wageninneren und schob sie durch die Hecktüre Hans zu, der sie in das Versandlager bugsierte. Die Tür hatte Hans mittels eines irgendwo greifbaren Holzbretts aufgekeilt, da sie sich nicht mehr arretieren hatte lassen. Ich hatte exakt den letzten Stapel weitergegeben und sah mich sicherheitshalber noch einmal um. Das jetzt unbeladene Heck des Transit war allmählich in die Höhe gegangen, jetzt fiel das Brett um, die Tür verlor ihre Stütze und knallte zu. Ich saß in der Falle.
Die Gefangenschaft
Das wurde mir schmerzlich klar, als ich feststellen musste, dass die Hecktüre als einzige Tür des Laderaums von innen nicht zu öffnen war. Es war später Vormittag, die Julisonne brannte voll auf das Autodach, die Hitze wurde unerträglich. Was tun? Der Hans hatte offensichtlich nichts mitbekommen. Schreien half nichts, die Werkstore waren wegen der Hitze weit geöffnet, der Lärm der Maschinen erstickte auch draußen jede Unterhaltung. Durch das Heckfenster konnte ich nach außen sehen. Lange Zeit, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, kam kein Mensch vorbei.
Die Befreiung
Dann aber kam doch einer – der Willi! Mein Gefuchtel, in dem ich versuchte, auf meine Lage aufmerksam zu machen, quittierte er mit einem freundlichen Winken, bevor er verschwand. Umsonst! Was konnte ich noch tun? Bewegen! Ich begann, mich gegen die Seitenwand zu stemmen und das Fahrzeug zum Schaukeln zu bringen. Das funktionierte, der Wagen wackelte, aber offenbar nahm niemand davon Notiz. Ich resignierte, behielt aber meinen Stand neben dem Heckfenster. Letztlich war es Hans, der irgendwann plötzlich schwungvoll die Türe öffnete und mir mit den Maschinenlärm übertönender Stimme „Jetzt hätt‘ ich Dich beinah‘ eingesperrt!“ zurief …