Unter den in der Wirtschaft Tätigen gibt es eine Personengruppe, die das Karriereschiff einstens erfolgreich durch Turbulenzen gesteuert hat, nun aber längst schon in ruhigeren Fahrwassern unterwegs ist. Das solide berufliche Niveau sichert einen gewissen Wohlstand, was an sich guter Grund zu Freude und Gelassenheit wäre. Dennoch beschleicht sie in der täglichen Routine, vielleicht gar in Phasen aufkeimenden Frusts das ungute Gefühl, dass das doch nicht schon alles gewesen sein kann, dass es in der Zeit bis zum noch fernen Ruhestand doch mehr geben müsste. – Mein Rezept gegen dieses Unwohlsein: Werdet Gerichtsgutachter!
Zwei Dinge möchte ich vorausschicken: Erstens verwende ich hier absichtlich den Begriff „Gutachter“ und nicht „Sachverständiger“. Letzterer kann – nach meiner Definition – auch als Berater tätig sein, was hier aber nicht Gegenstand sein soll; Ein Gutachter handelt zwar auch in einem Auftrag, muss aber in seiner Arbeit immer unabhängig und in seiner Entscheidungsfindung ergebnisoffen bleiben. Zweitens ziele ich in den folgenden Ausführungen bewusst in erster Linie auf unselbstständig Berufstätige, da ihnen die Gutachtertätigkeit genauso offenstehen sollte wie Freiberuflern, Unternehmern und anderen Selbstständigen.
Notwendige Klärungen im Vorfeld
Die Betonung liegt auf „sollte“, denn ein Angestellter etwa wird sich mit seinem Arbeitgeber vorher verständigen und abstimmen müssen, ob ihm die nebenberufliche Ausübung seiner Tätigkeit gestattet wird. Dies auch im Hinblick darauf, dass angesichts von Gerichtsterminen fallweise zeitliche Abwesenheiten vom Arbeitsplatz notwendig sein könnten. Aber vielleicht ist derlei im Zeitalter des Homeoffice und der flexiblen Arbeitszeiten ohnehin kein Thema mehr. Zu bedenken ist auch, dass der künftige Gutachter aus Befangenheitsgründen keine Gerichtsfälle annehmen darf, die sein Unternehmen oder einen Mitbewerber betreffen.
Die Herausforderung
Jeder vernunftbegabte, seiner Sinne mächtige und psychisch gesunde Mensch will sich weiterentwickeln, in beruflicher Hinsicht genauso wie in der Entfaltung seiner Persönlichkeit. Es ist zu hoffen, dass dies möglichst vielen geradeheraus gelingt. Was die angesprochene Gruppe betrifft, werden Auswege in Form von betrieblichen Änderungen und Anpassungen eher begrenzt sein, insbesondere dann, wenn die Hierarchie keine oder nur geringe Chancen auf weiteren Aufstieg bereithält. Manche liebäugeln mit Kündigung, wollen oder können aber den Schritt wegen des damit verbundenen Risikos und des möglichen Verlusts von Abfindungen (noch) nicht vollziehen.
Eine Erweiterung
Wenn ich mich wie erwähnt vorzugsweise auf die Gruppe unselbständig Beschäftigter beziehe, sei angemerkt, dass auch Selbstständige – egal ob Neulinge oder Routiniers – sich oft genötigt sehen, ihre Tätigkeit zu ergänzen oder um ein neues Standbein zu erweitern. Gutachtertätigkeit kann für beide Gruppen eine interessante Bereicherung der bisherigen beruflichen Tätigkeit darstellen. Gutachtertätigkeit ist zudem von Haus aus ein Nebenberuf, oder wie ein juristischer Kommentar es korrekt nennt: Eine berufsähnliche Tätigkeit, die nur in Verbindung mit einem aktuell ausgeübten Beruf oder zumindest auf der Grundlage der Erfahrung eines Berufslebens ausgeübt werden kann.
Voraussetzungen und Anforderungen
Die Entscheidung, Gutachter werden zu wollen – genauer gesagt: Gerichtsgutachter – kann der Routine der Alltagsarbeit und auch der persönlichen Entfaltung eine Art frischen Wind verpassen. Es gibt einiges zu lernen, das über das berufliche und fachliche Umfeld hinausgeht, wichtig ist, dass der Interessent Klarheit hat über die Bedingungen, die ihm gestellt werden, so da sind: Unparteilichkeit, Unabhängigkeit, geordnete finanzielle Verhältnisse, Zuverlässigkeit, Unbescholtenheit, um die wichtigsten zu nennen. Dass gute Beherrschung von schriftlicher und mündlicher Kommunikation vorausgesetzt werden, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden.
Frischer Wind, auch für den angestammten Beruf
In der Praxis wird der Lernwillige einen vom Sachverständigenverband veranstalteten Vorbereitungskurs besuchen, der die rechtliche Seite der Tätigkeit beleuchtet. Er wird sich gewissenhaft auf die Prüfung vorbereiten, die aus einem rechtlichen Teil und einem Fachgespräch mit Kollegen besteht. Schaffter diese, wird er in die Liste der Gerichtssachverständigen eingetragen. Wenn der erste Auftrag ins Haus flattert, wird er Neuland betreten und neben dem Ernst der neuen Verantwortung auch Freude über die Entwicklung neuer Fähigkeiten verspüren, die auf die tägliche Berufsarbeit zurückstrahlen und diese wertvoller machen.
Der Wunsch nach mehr
Einige werden sich nicht mit der neuen Erfahrung zufriedengeben und bemerken, wie die gewonnene Bereitschaft zu Eigenverantwortung den Wirkungskreis der Persönlichkeit erweitert. Sie werden den Impuls verspüren, in die berufliche Selbstständigkeit wechseln zu wollen. Dieser Schritt wird sorgfältig durchdachte Vorgangsweise und vielleicht die Hilfe eines erfahrenen Kollegen oder Beraters benötigen. Es ist interessant, mitzuverfolgen, wie sich derlei entwickeln kann: Ein lieber Bekannter und höherer Angestellter hatte das Ansinnen von Selbstständigkeit einstens recht barsch zurückgewiesen. Zwei Jahre später war er nicht nur Sachverständiger, sondern auch glücklicher Freiberufler …
—