Hans Rosling (1948 -2017) war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Instituet und Direktor der Gapminder-Stiftung in Stockholm. So eindringlich wie niemand zuvor hat er gezeigt, dass wir regelmäßig falsch liegen, wenn wir Fragen über den Zustand der Welt beantworten wollen. Woran das liegt? Roslings Erkenntnis: Unser Gehirn verführt uns zu einer dramatisierenden Weltsicht, die mitnichten der Realität entspricht. In seinem Buch „Factfulness“ entwirft er ein Programm, mit dem wir zu den Fakten zurückkehren und die Welt so sehen können, wie sie ist – und nicht, wie wir glauben, dass sie ist.
Rosling nennt eine Reihe von Instinkten, die durch verschiedene Impulse geweckt werden können und uns zu Verhaltensweisen verführen, die mit einem Realitätsverlust einhergehen können. Sie hier aufzuzählen, würde den Rahmen des Artikels sprengen, aber zu zwei seien hier kurze Buchauszüge aus der zwölften Auflage 2021* zitiert: Erstens betreffend die Erzeugung von Furcht, insbesondere jener, die von manchen Agitatoren als zweckdienlich empfunden wird, und zwar am Beispiel Klimawandel; Zweitens die Vorspiegelung von Dringlichkeit, gegen ein vermeintliches oder echtes Problem ganz schnell irgendetwas unternehmen zu müssen.
Beim Thema Klimawandel dominieren nach wie vor die schrillen Töne. Viele Aktivisten, die ihn für das einzige wichtige globale Problem halten, haben sich darauf versteift, alles aufs Klima zu schieben und in ihm die einzige Ursache für alle anderen globalen Probleme zu sehen.
Sie greifen schockierende tagesaktuelle Themen auf – wie den Krieg in Syrien, ISIS, Ebola, HIV, Haiattacken, es gibt fast nichts, was nicht dafür herhalten müsste -, um das Gefühl der Dringlichkeit für das langfristige Problem zu intensivieren. Manchmal basieren die Forderungen auf streng wissenschaftlichen Belegen, häufiger jedoch auf weit hergeholten und unbewiesenen Hypothesen. Ich kann die frustrierten Gefühle von Leuten, die sich darum bemühen, zukünftige Risiken in der Gegenwart konkret spürbar zu machen, durchaus nachempfinden, doch ihre Methoden kann ich nicht gutheißen.
Was ich für besonders bedenklich halte, ist der Versuch, mit der Erfindung des Begriffs „Klimaflüchtlinge“ Aufmerksamkeit für das Thema zu erregen. Nach meinem Kenntnisstand ist die Verknüpfung von Klimawandel und Migration äußerst schwach. Wenn von Klimaflüchtlingen gesprochen wird, handelt es sich meistens um eine absichtliche Übertreibung, mit der die Angst vor Flüchtlingen in die Angst vor dem Klimawandel umgewandelt und eine beträchtlich breitere Basis öffentlicher Unterstützung für eine Absenkung des CO2-Ausstoßes erreicht werden soll.
Wenn ich Klimaaktivisten meine Bedenken schildere, bekomme ich häufig zu hören, dass das Erregen von Furcht und Dringlichkeit durch übertriebene und nicht belegte Annahmen gerechtfertigt sei, weil es keine andere Möglichkeit gebe, die Leute zum Handeln angesichts zukünftiger Risiken zu bewegen. Die Klimaaktivisten haben sich selbst davon überzeugt, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und ich muss zugeben, dass das auf kurze Sicht funktionieren könnte. Aber …
Wer zu oft „Wolf“ ruft, setzt seine Glaubwürdigkeit und seinen Ruf als seriöser Klimaforscher aufs Spiel sowie den Ruf einer ganzen Bewegung. Bei einem so gewaltigen Problem wie dem des Klimawandels darf das einfach nicht geschehen. Die Rolle des Klimawandels zu überzeichnen und ihn mit Kriegen und Konflikten, mit Armut und Migration in Zusammenhang zu bringen bedeutet auch, andere wichtige Ursachen dieser globalen Probleme zu ignorieren und unsere Fähigkeit, diesen zu begegnen, zu schwächen. Wir dürfen nicht in eine Situation geraten, in der wir einander nicht mehr zuhören. Ohne Vertrauen sind wir verloren.
Und in hitzköpfigen Behauptungen verheddern sich oft gerade die Aktivisten, die sie ins Feld geführt haben. Die Aktivisten rechtfertigen sie als clevere Strategie, um das Engagement der Menschen zu steigern, vergessen dann jedoch, dass es sich um Übertreibungen handelt und auf diese Weise realistische Lösungen aus dem Blick geraten. Wer sich seriös mit dem Klimawandel befassen will, muss immer zwei Dinge im Kopf behalten: Man muss sich immer weiter mit dem Problem befassen, darf aber nicht zum Opfer der eigenen frustrierten und alarmierenden Botschaften werden. Man darf einerseits die Augen vor den Worst-Case-Szenarien nicht verschließen, muss aber andererseits auch um die Unsicherheit der Datenlage wissen. Und wer anderen Dampf machen will, muss trotzdem kühlen Kopf behalten, um kluge Entscheidungen treffen zu können und seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. (S. 280f)
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Der Instinkt der Dringlichkeit verleitet uns zu augenblicklichem Handeln angesichts einer erkannten unmittelbaren Gefahr. In ferner Urzeit war das sicher äußerst zweckmäßig. Wenn wir dachten, dass da im hohen Gras ein Löwe lauert, wäre es sicher nicht besonders klug gewesen, dem Verdacht zu analytisch auf den Grund zu gehen. Und die, die innehielten, um die Wahrscheinlichkeiten abzuwägen, sind nicht unsere Vorfahren. Wir sind die Nachkommen von denen, die auch bei unklarer Informationslage zügig entschieden und handelten. Heute benötigen wir den Instinkt der Dringlichkeit beispielsweise noch, wenn aus dem Nichts ein Auto auf uns zufährt und wir ausweichen müssen. Aber ansonsten spielen unmittelbare Gefahren in unserem Leben kaum noch eine Rolle. Wir haben es jetzt mit komplexeren und häufig abstrakteren Problemen zu tun, zu denen der Instinkt der Dringlichkeit wenig beiträgt. Ganz im Gegenteil. Er sorgt dafür, dass wir uns gestresst fühlen, verstärkt unsere anderen Instinkte, die dadurch schwerer zu kontrollieren sind, hindert uns daran, analytisch zu denken und verleitet uns dazu, uns zu schnell festzulegen und auf drastische Aktionen zurückzugreifen, deren Folgen wir nicht ausreichend durchdacht haben.
Es hat nicht den Anschein, als ob wir einen ähnlichen Handlungsinstinkt gegenüber Risiken in ferner Zukunft hätten. Tatsächlich können wir angesichts zukünftiger Gefahren ziemlich träge sein. Deshalb bilden auch so wenige Menschen ausreichend Rücklagen für ihren Ruhestand.
Diese Haltung gegenüber zukünftigen Risiken ist ein großes Problem für Aktivisten, die mit langfristigen Zeitskalen arbeiten. Wie können sie uns aufwecken und uns aus unserer Lethargie reißen? Sehr oft geschieht dies, indem sie uns davon überzeugen, dass ein unsicheres zukünftiges Risiko in Wirklichkeit ein sicheres unmittelbares Risiko ist, dass wir die historische Gelegenheit haben, ein wichtiges Problem zu lösen, und dass es jetzt oder nie in Angriff genommen werden muss – wobei hier wieder an den Instinkt der Dringlichkeit appelliert wird.
Mit dieser Methode können wir sicherlich zum Handeln bewegt werden, aber sie kann auch unnötigen Stress bedeuten und Fehlentscheidungen provozieren, und sie kann auf Kosten von Glaubwürdigkeit und Vertrauen gehen. Permanenter Alarm macht uns taub gegenüber echten Dringlichkeiten. Aktivisten, die Dinge als dringlicher darstellen, als sie sind, um uns zum Handel zu bewegen, sind wie der Junge, der „Wolf“ rief. Und wir erinnern uns, wie die Fabel endet: mit vielen toten Schafen im Gras. (S. 274f)
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*) Hans Rosling “Factfullness -Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist”, Ullstein