Wir haben mit manchen Dingen zu tun, die uns im Lauf der Zeit so selbstverständlich oder zur Routine werden, dass wir gar nicht mehr darüber nachdenken, wo denn nun ihr Ursprung liegt, worin ihre tiefere Bedeutung besteht, ja was nur überhaupt ihr Sinn ist. Momente des Innehaltens können sich aber ergeben, wenn wir unser Wissen über besagte Dinge an Neulinge weitergeben. Denn Neulinge stellen Fragen, die uns in ihrer Einfachheit gar nicht mehr in den Sinn kommen. Vielleicht sind wir sogar überrascht, wenn sich aus den Antworten auf diese Fragen völlig neue Sichtweisen auf Gewohntes auftun.
Ist mir auch so ergangen beim Versuch einer Erklärung, was ein Gutachten ist. Darüber kann man viel erzählen. Man kann Begriffe erklären, etwa, was ein Befund ist und kann die Merkmale aufzählen, in denen er sich von einer gutachterlichen Stellungnahme unterscheidet. Man kann Abgrenzungen treffen und darlegen, wie sich ein Gutachten von einem Beratungsbericht unterscheidet. Man kann detailliert die Schritte darlegen, die zu einem vollständigen Gutachten führen. Man kann sich umfassend über die qualitativen Kriterien auslassen.
Gutachten beantworten Fragen
All das vermag den zuhörenden Laien vielleicht mächtig zu beeindrucken. Fraglich ist aber, ob der damit ein klares Bild oder wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon bekommt, was ein Gutachten tatsächlich ist, was sein Wesen ausmacht. Was es braucht, ist eine knappe, nichtsdestotrotz präzise und einprägsame Formulierung, auf die ich mich immer wieder rückbesinnen kann. Irgendwann im Frage-und-Antwort-Spiel mit einem Neuling ist mir dann dieser Satz mit drei Worten „herausgerutscht“: Gutachten beantworten Fragen. Nichts weiter. Ganz klar: Es muss immer eine Frage geben, ohne eine solche kann‘s kein Gutachten geben.
Vom Simplen über das Komplizierte zum Einfachen
Das klingt jetzt fürchterlich banal, alltäglich und uninteressant. Für mich war es aber – was vielleicht komisch klingen mag – ein Moment tiefer Einsicht. Ich kann auf viele Jahre intensiver Beschäftigung mit dem Sachverständigensein und mit dem Schreiben von Gutachten zurückblicken. Der Satz war so etwas wie ein Schlussstein des Weges vom Simplen („im Gutachten tut man auf bestmögliche Weise sein Wissen kund“) über das Komplizierte („Qualitätsmanagement für Sachverständige gibt Sicherheit“) zum Einfachen („Gutachten beantworten Fragen“).
Frage – Befund – gutachterliche Stellungnahme
Jaja, ich weiß natürlich, dass – sofern es das praktische Handwerk des Sachverständigen betrifft – schon einiges an Können und Erfahrung dazugehört, um hier gute Arbeit leisten zu können. Aber der Arbeitsablauf ist doch immer derselbe: Mir wird eine Frage gestellt (das ist die Aufgabenstellung), ich suche alle Informationen zusammen, die ich für die Antwort brauche (das ist der Befund) und gebe schließlich die Antwort, für die ich natürlich eine Begründung zur Hand haben soll (das ist das Gutachten im engeren Sinn oder anders gesagt die gutachterliche Stellungnahme). Das alles wird dokumentiert und so wiedergegeben, dass es auch ein Laie zu verstehen vermag.
Antworten im Stile eines Gutachters?
Diese Überlegungen zum Sinn eines Gutachtens könnten sich auch auf das tägliche Leben auswirken. Beispielsweise wenn ich mich dazu entschließen würde, mit Fragen so umzugehen, wie ich es in einem Gutachten tue: Zuallererst müsste ich sicher sein, dass ich die Frage richtig verstanden habe. Dann hätte ich zu überlegen, ob ich auf Grundlage meines Wissens, meiner Erfahrung oder mit Hilfe von Informationen Dritter eine ausreichende Grundlage habe, um eine fundierte Antwort geben zu können. Andernfalls müsste ich mir diese erst beschaffen. Dann müsste ich die relevanten Fakten zusammenfassen.
Anwendung im Alltagsleben
Erst danach und in einem letzten Schritt könnte ich auf Grundlage der Fakten eine Antwort geben, die ich danach begründen müsste. – Natürlich wird im Alltagsleben kaum jemand so strukturiert vorgehen, allein schon deshalb, weil die Fragen und Antworten nicht wichtig genug sind, außer es gibt Anlässe oder Probleme, bei denen es „um etwas geht“ und für die es sich lohnt, sie „gutachterlich“ anzufassen. Aber wäre es nicht auch bei Fragen etwa in privaten oder beruflichen Diskussionen sehr oft sinnvoller und für alle Beteiligten hilfreicher, vor einer Antwort innezuhalten und in der erwähnten Weise nachzudenken?
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