Anlässlich von örtlichen Befundaufnahmen ist immer wieder dasselbe Phänomen zu beobachten. Da habe ich schon bei der Begrüßung deutlich darauf hingewiesen, dass es meine Aufgabe ist, Tatsachen zu erheben. Dazu gebe ich eine einfache Definition: Tatsachen sind Dinge, die ich sehen kann. Wenn es darauf ankommen sollte – und das ist ganz, ganz selten der Fall – vielleicht auch noch Sachen, die ich mit meinen verbleibenden Sinnen wahrnehmen kann, also etwa Geräusche, Gerüche, Vibrationen oder Temperaturen (den Geschmackssinn überlasse ich lieber sachverständigen Gastronomen).
Ich habe auch noch erläutert, dass es nicht Aufgabe eines Sachverständigen ist, irgendwelche Geschehnisse oder Ereignisse zu protokollieren, die mir im Zusammenhang mit besichtigten Sachen erzählt werden, oder Meinungen und Vermutungen, auch nicht Anschuldigungen, vielleicht sogar Beschimpfungen und Unterstellungen, Auseinandersetzungen, Diskussionen etc. Alles nicht meine Angelegenheit. Derlei Äußerungen – so habe ich mit Nachdruck erläutert, gehören nicht in meinen Befund. Wenn sie der Angelegenheit eines Betroffenen dienlich erscheinen, kann er sie einer Gerichtsverhandlung vortragen.
Spannungsgeladenes Arbeitsklima bei örtlichen Befundaufnahmen
Die Anwälte der beiden Parteien haben zustimmend genickt. Dann habe ich noch gesagt, dass, wenn ich Fragen habe, diese rein die Tatsachen und Sachverhalte betreffen. Wie die Sache zustande gekommen ist – also Zusammenhänge oder Hintergründe – habe das Gericht zu interessieren, nicht mich. – Dann geht es an die Besichtigung. Gleich beim ersten Mangelpunkt, zu dem ich besagte Sachverhalte feststellen will und – nach Genehmigung durch den Hausherrn – die ersten Lichtbilder anfertige, beginnt einer der Teilnehmer lang und breit und in lamentierendem Tonfall seinen Leidensweg auszubreiten, die Erwartungen, Enttäuschungen, die ihn letztlich zu diesem Rechtsstreit gezwungen haben.
Abbruchdrohung wirkt immer
Der zuständige Anwalt versucht, zu beruhigen, was nach einiger Zeit auch gelingt. Aber jetzt kann sich die andere Seite nicht halten und ergeht sich in Vorwürfen und Verdächtigungen, worauf sich eine lautstark werdende Diskussion entwickelt, bei denen schließlich beide Anwälte ihre ganze Überzeugungskraft aufbringen müssen, damit wieder einigermaßen Beruhigung eintritt. Ich weise unmissverständlich darauf hin, dass ich die Befundaufnahme abbrechen muss, wenn die Parteien mir das Arbeiten unnötig erschweren, was bis jetzt immer gewirkt hat. Auch diesmal ist das der Fall. Einer der Anwälte sichert wortreich zu, dass sein Mandant fortan bestimmt kooperativ sein werde.
Meine Anlaufprobleme
Ich muss offen zugeben, dass ich zu Beginn meiner Tätigkeit als Sachverständiger mir wesentlich schwerer getan habe als heute, Situationen bei örtlichen Befundaufnahmen richtig einzuschätzen. Besonders mit Konflikten unter den Anwesenden konnte ich nicht recht umgehen. Ich hatte mich in meine neue Rolle und ihre Aufgaben noch nicht eingelebt und war viel zu unsicher. Das Wissen um meine Möglichkeiten war zwar da, aber nicht mit Leben erfüllt. Ergebnis war, dass mir ein notwendiges Mindestmaß an Autorität gefehlt hat. So etwas spüren gewiefte Anwälte und versuchen, Einfluss für ihre Mandanten zu gewinnen, was man ihnen nicht verargen kann.
Was habe ich seither gelernt?
Erstens, dass eine gute Vorbereitung entscheidend für den Erfolg eines Ortstermins ist. Ich muss wissen, welche Tatsachen ich zu erheben habe und mir dazu ausgehend vom Auftrag des Gerichts den Akt sehr genau durchsehen. Fast immer ergibt sich daraus eine Aufgaben- oder Frageliste, die es vor Ort penibel abzuarbeiten gilt. So geht der rote Faden nicht verloren und ich bin zu beschäftigt, um mir irgendwelche Erzählungen anzuhören. Zweitens muss ich mir alle Hilfsmittel bereitlegen, die ich vor Ort brauchen werde, Kamera, Messmittel, Notizunterlagen, Pläne, etc. Drittens informiere ich mich bestmöglich über die Personen, Unternehmen, Institutionen, mit denen ich vor Ort zusammentreffen werde, was heutzutage online nicht schwierig ist. Viertens werde ich pünktlich, sicherheitshalber eher zu früh vor Ort sein.
Etwas ganz Wichtiges zum Schluss
Hier noch persönliche Anmerkungen, die helfen sollen, schwierige Situationen zu meistern. Es geht um Haltung: Ich nehme mich nicht wichtig, sondern meine Rolle als Sachverständiger ist, Menschen zu helfen. Daher kann ich Emotionen herausnehmen und niemand kann mich beleidigen, auch wenn er noch so sehr mit mir schimpft. Ich denke daran, dass jeder von uns, die wir da vor Ort zusammenkommen, eine Rolle zu erfüllen hat, die uns das Leben zugeteilt hat. Wir können einander mit Wertschätzung begegnen, auch und besonders dann, wenn wir in Konflikte verwickelt sind. Und wenn wir den Tatsachen ins Auge gesehen, sie akzeptiert haben und das Gerichtsverfahren erledigt ist, können wir uns vielleicht später einmal mit ausgiebigen Erzählungen darüber unterhalten …