Das Gutachten ist fertiggestellt und mitsamt der Gebührennote auf elektronischem Weg an das Gericht übersandt worden. Die Parteien und ihre Vertreter bekommen damit Gelegenheit, es genau zu studieren. Die Rechtsanwälte müssen sich danach entscheiden, ob sie gegen die Gebühren Einwände haben und ob sie vom Sachverständigen eine Erörterung des Gutachtens wünschen. Dazu stellen sie einen entsprechenden Antrag und legen eine Liste von Fragen vor, die der Sachverständige zu beantworten hat. Natürlich bekommt der Sachverständige nun vom Gericht ausreichend Zeit, um sich gut vorbereiten zu können.
Es ist verständlich, dass ein Rechtsvertreter nur dann Fragen stellen wird, wenn er sich aus den Antworten – oder aus den erhofften Antworten – Vorteile und Unterstützung für seinen Standpunkt verspricht. Das ist ja seine Aufgabe in Dienst seines Klienten. Je nach Situation wird er bei einzelnen Antworten mit ergänzenden Fragen „nachbohren“. Nicht selten wird versucht, den Sachverständigen – so es der Sache dient – argumentativ aufs Glatteis zu führen. Er wird aber auch zusätzliche Fragen stellen und es liegt am Sachverständigen, vorsichtig zu sein und nicht vorschnell zu antworten, wenn er sich nicht sicher fühlt oder wenn er sich dazu erst näher informieren müsste.
Rätselraten
In einem konkreten und aktuellen Gerichtsfall hat sich ein Rechtsanwalt sehr rasch entschlossen, die Erörterung meines Gutachtens zu beantragen. Er kündigte an, die Frageliste nachzureichen. Allein, die Frageliste kam nicht, der Anwalt ging erst einmal auf einen längeren Sommerurlaub und vertröstete das Gericht auf einen Termin nach seiner Rückkehr. In dieser Zeit verblieb mir nur ein Rätselraten, welche Fragen auf mich zukommen würden, denn mir selbst fielen beim besten Willen keine ein, zu eindeutig war das Ergebnis des Gutachtens. Aber man lernt ja nie aus und so verblieb mir einstweilen nur das Zuwarten auf das, was da kommen würde.
Rückzug
Als sich nach der angekündigten Rückkehr aus dem wohlverdienten Urlaub noch immer nichts regte, setzte das Gericht zum ersten eine Frist für den Anwalt und zum zweiten einen Termin für die Gutachtenserörterung fest. Jetzt aber kam endlich die Reaktion: Der Rechtsanwalt zog seinen Antrag auf Gutachtenserörterung umgehend zurück! Das war mir in einem Vierteljahrhundert an Sachverständigentätigkeit bei Gericht noch nie vorgekommen. Ein paar Tage später trudelte die formale Verständigung in meinem elektronischen Postfach bei der Justiz ein. De facto war damit meine Aufgabe in diesem Gerichtfall schlagartig erledigt.
Routineverzicht
Warum schreibe ich über ein solches Mini-Erlebnis aus dem Gerichtsalltag? Ganz einfach deshalb, weil die Arbeit bei Gericht immer wieder für Überraschungen sorgt und gut ist für kleinere und größere Lerneinheiten. Das ist auch gut so, denn das Schlimmste, was einem Sachverständigen passieren könnte, wäre das Erstarren in eingefahrenen Geleisen mit der wenig erbaulichen Einstellung, man hätte eh schon alles erlebt. Die Sachverständigentätigkeit hält aber das Denken auf Trab, was all denen zugutekommt, die Freude am Lernen haben. Das aber sollte wohl für alle aktiven Sachverständigen gelten, egal welchen Alters …
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