Danke Hans Rosling! Seinem Buch „Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ ist eine Fülle von exakt belegten und soliden Tatsachen zu entnehmen, die unser Weltbild auf eine spannende und unterhaltsame Weise korrigiert. Nur ein begnadeter Statistiker und Wissenschaftler ist zu so etwas imstande. Ein Kapitel beschäftigt sich damit, dass künstlich erzeugte Dringlichkeit unsere Sicht auf Tatsachen verzerren kann. Furcht-Erzeuger sind meist eifrige Aktivisten, die um einer vermeintlich guten Sache willen auch vor überzeichneten und problematischen Aussagen nicht zurückschrecken.
Ein Abschnitt des Kapitels über Dringlichkeit in Roslings Buch beschäftigt sich mit der Diskussion rund um den Klimawandel und mit der Rolle von Aktivisten, die dem Klimawandel eine Wichtigkeit zumessen, die alle anderen Menschheitsprobleme überragt:
Beim Thema Klimawandel dominieren nach wie vor die schrillen Töne. Viele Aktivisten, die ihn für das einzige wichtige globale Problem halten, haben sich darauf versteift, alles aufs Klima zu schieben und in ihm die einzige Ursache für alle anderen globalen Probleme zu sehen.
Hans Rosling warnt: Viele Aktivisten erzeugen ausgehend von bewegenden Ereignissen eine besondere Dringlichkeit, ihre Argumente sind nicht immer wissenschaftlich unterlegt, sondern können weit hergeholt und unbewiesen sein:
Sie greifen schockierende tagesaktuelle Themen auf – wie den Krieg in Syrien, ISIS, Ebola, HIV, Haiattacken, es gibt fast nichts, was nicht dafür herhalten müsste-, um das Gefühl der Dringlichkeit für das langfristige Problem zu intensivieren. Manchmal basieren die Forderungen auf streng wissenschaftlichen Belegen, häufiger jedoch auf weit hergeholten und unbewiesenen Hypothesen. Ich kann die frustrierten Gefühle von Leuten, die sich darum bemühen, zukünftige Risiken in der Gegenwart konkret spürbar zu machen, durchaus nachempfinden, doch ihre Methoden kann ich nicht gutheißen.
In der Sicht des Autors können Aktivisten zu besonderem Einfallsreichtum neigen, wenn es darum geht, aus einem raffinierten Verquicken von Ängsten aus verschiedenen Erlebensbereichen neue Bedrohungsszenarien zu konstruieren:
Was ich für besonders bedenklich halte, ist der Versuch, mit der Erfindung des Begriffs „Klimaflüchtlinge“ Aufmerksamkeit für das Thema zu erregen. Nach meinem Kenntnisstand ist die Verknüpfung von Klimawandel und Migration äußerst schwach. Wenn von Klimaflüchtlingen gesprochen wird, handelt es sich meistens um eine absichtliche Übertreibung, mit der die Angst vor Flüchtlingen in die Angst vor dem Klimawandel umgewandelt und eine beträchtlich breitere Basis öffentlicher Unterstützung für eine Absenkung des CO2-Ausstoßes erreicht werden soll.
Lügen haben kurze Beine – der Zweck heiligt nicht die Mittel! Ein kluger Mensch hat einmal gemeint, man könne einige Menschen ein Leben lang, alle Menschen eine Zeit lang, aber niemals alle Menschen ein Leben lang täuschen:
Wenn ich Klimaaktivisten meine Bedenken schildere, bekomme ich häufig zu hören, dass das Erregen von Furcht und Dringlichkeit durch übertriebene und nicht belegte Annahmen gerechtfertigt sei, weil es keine andere Möglichkeit gebe, die Leute zum Handeln angesichts zukünftiger Risiken zu bewegen. Die Klimaaktivisten haben sich selbst davon überzeugt, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und ich muss zugeben, dass das auf kurze Sicht funktionieren könnte. Aber …
Hier setzt der Autor an einem Aspekt an, der viel zu wenig beachtet wird: Je mehr und je länger immer wieder dieselben alarmschwangeren Parolen getrommelt und apokalyptischen Katastrophenszenarien beschworen werden, die sich dann nicht bewahrheiten, desto rascher wird ein zentrales Element sozialen Zusammenhalts zerstört, nämlich das Vertrauen:
Wer zu oft „Wolf“ ruft, setzt seine Glaubwürdigkeit und seinen Ruf als seriöser Klimaforscher aufs Spiel sowie den Ruf der ganzen Bewegung. Bei einem so gewaltigen Problem wie dem des Klimawandels darf das einfach nicht geschehen. Die Rolle des Klimawandels zu überzeichnen und ihn mit Kriegen und Konflikten, mit Armut und Migration in Zusammenhang zu bringen bedeutet auch, andere wichtige Ursachen dieser globalen Probleme zu ignorieren und unsere Fähigkeit, diesen zu begegnen, zu schwächen. Wir dürfen nicht in die Situation geraten, in der wir einander nicht mehr zuhören. Ohne Vertrauen sind wir verloren.
Noch etwas wird durch viele übermotivierte Aktivisten be- oder gar verhindert: Die nüchterne und rationale auf Wissenschaft und Technik bauende geduldige Suche nach machbaren und gedeihlichen Lösungen:
Und in hitzköpfigen Behauptungen verheddern sich oft gerade die Aktivisten, die sie ins Feld geführt haben. Die Aktivisten rechtfertigen sie als clevere Strategie, um das Engagement der Menschen zu steigern, vergessen dann jedoch, dass es sich um Übertreibungen handelt und auf diese Weise realistische Lösungen aus dem Blick geraten. Wer sich seriös mit dem Klimawandel befassen will, muss immer zwei Dinge im Kopf behalten: Man muss sich immer weiter mit dem Problem befassen, darf aber nie zum Opfer der eigenen frustrierten und alarmierenden Botschaften werden. Man darf einerseits die Augen vor den Worst-Case-Szenarien nicht verschließen, muss aber andererseits auch um die Unsicherheit der Datenlage wissen. Und wer anderen Dampf machen will, muss trotzdem kühlen Kopf behalten, um kluge Entscheidungen treffen zu können und seine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel zu setzen.
Hans Rosling gebührt enormer Dank dafür, dass er uns die Sicht auf die Welt, wie sie wirklich ist, ein gutes Stück näherbringt. Er muntert uns auf, selbst nachzuforschen, zu fragen, zu reflektieren und eigene Schlüsse nicht vorschnell, sondern erst dann zu ziehen, wenn die Faktenlage ausreichend geklärt ist.