Ein spontaner Urlaub ist etwas Wunderbares, besonders im Sommer. Da tut sich ein kostbares Freizeitfenster von zwei Tagen auf. Das junge Pärchen verstaut Kinder und Gepäck und ab geht’s gen Süden. Zwei Tage später ist man wieder zurück. Beim Auspacken kommt der freundliche Nachbar von gegenüber dazu. Er sei selber die Tage aus Bibione zurückgekommen, der Garten des Pärchens sei überschwemmt gewesen, Wasser habe aus dem Gartenschlauch gezischt, er habe das abgeglittene Strahlrohr wieder hinaufgekriegt und so das Wasser stoppen können. Auweia, man hat vor Abreise den Schlauch vergessen abzudrehen.
Mittlerweile war aber alles wieder aufgetrocknet, das Wetter war ja die paar Tage sehr schön gewesen und keinerlei Spuren von Feuchtigkeit waren mehr zu sehen. Glück gehabt. Die Sache war bald wieder vergessen. Bis dem Pärchen die Jahresabrechnung des Wasserwerks zukam. Angelastet wurde der Verbrauch von zusätzlich neunhundertvierundneunzig Kubikmetern edelsten Trinkwassers, Kosten deutlich über viertausend Euro. Begründung: Das Wasser sei im Garten infolge Unachtsamkeit ausgelaufen. Die Empfänger waren geschockt, ließen die Rechnung aber trotz mehrerer Mahnschreiben unbeeinsprucht.
Von der Klage zur Frage
Wie zu erwarten, trudelte nach einiger Zeit ein Schreiben des Gerichts ein, das Wasserwerk hatte eine Mahnklage eingebracht. In der Folge war der Sachverständige an der Reihe. In seinem Beschluss stellte das Gericht zwei Fragen: Erstens, wieviel Liter Wasser konnten tatsächlich aus dem Schlauch auslaufen? Zweitens, war die vom Wasserwerk genannte Menge erklärbar ganz allgemein aufgrund der zeitlichen Gegebenheiten und im Besonderen aus den Schilderungen des freundlichen Nachbarn und seiner Angabe, er sei bei seiner Rückkunft bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden?
Befund im Spielzeugparadies
Eine örtliche Befundaufnahme ist immer ein erster notwendiger Schritt, um Licht in die Sache zu bringen. So drängten sich alsbald ein paar Leute auf den wenigen freien Flecken eines kleinen Vorgartens. Er war der Kinder wegen sorgsam von einem niedrigen Zaun umfriedet. In seinem Geviert war er von einer schieren Fülle größerer und kleinerer Spielzeugarten übersät. Der verfahrensauslösende Gartenschlauch war an einen Kugelhahn im Keller angeschlossen und durch ein Kellerfenster in den Garten geführt. Das Strahlrohr samt der abgeglittenen Kunststoff-Klemmverschraubung war ebenso noch vorhanden.
Mengenmessung im Eimer
Als erste Aufgabe galt es, die mögliche je Zeiteinheit ausfließende Wassermenge festzustellen. Zu klären war zunächst die Stellung des Hahngriffs zum Zeitpunkt des Vorfalls. Im Gerichtsakt hatte die Dame des Hauses diese „als ein Viertel offen“ beschrieben, vor Ort stellte sich aber heraus, dass damit ein zur Hälfte geöffneter Hahngriff gemeint war. Die aus dem offenen Schlauchende in den Garten auslaufende Wassermenge konnte unter den wachsamen Augen der beiden Anwälte und unter Zuhilfenahme eines Zehnlitereimers und einer Handy-Stoppuhr ermittelt werden, auch der Wasserdruck wurde abgelesen.
Erinnerungsvermögen: örtlich gut, zeitlich schlecht
Der freundliche Nachbar war zum Glück anwesend und konnte zur Ausdehnung der Wasserlache befragt werden. Aufgrund seiner berufsbedingt geschulten Beobachtungsgabe – er war Polizist – konnte er deren Fläche und Tiefe recht genau eingrenzen. Wichtig war die Erkenntnis, dass ein Teil der überfluteten Fläche eine Pflasterung aufwies, durch die Wasser nicht versickern hatte können. Der Rest war grasbedeckter, stark verfestigter Wiesenboden. Erstaunlich waren einige Erinnerungslücken: Sowohl das Pärchen als auch der nette Nachbar konnten für ihre Rückkehrtermine nur vage Datums- oder Tageszeitangaben machen.
Hilfreiches Denkmodell
Der Rest der Aufgabe war Büro- und damit Denkarbeit. Da mit Ausnahme der Entdeckung der Wasserlache durch den Nachbarn keine Beobachtung der Vorgänge vorlag und damit auch keine konkret greifbaren Zeitpunkte, musste ein Denkmodell her. Das Kunststoff-Strahlrohr war am Gartenschlauch mittels Klemmbefestigung und Überwurfmutter befestigt. Das Wetter war sonnig und heiß, Schlauch lag im Freien und es darf angenommen werden, dass er sich sehr stark erwärmt hat. Es schien durchaus möglich, dass der Gartenschlauch seine Festigkeit verloren hatte und infolge Leitungsdrucks aus der Klemmbefestigung geschlüpft war.
Eingrenzungen
Dies dürfte höchstwahrscheinlich um die Mittagszeit herum geschehen sein, da man die stärkste Sonneneinstrahlung auf einer waagrechten Fläche im Zeitraum zwischen spätem Vormittag und frühem Nachmittag zu erwarten hatte. Setzt man dies voraus, kommt als Schadensdatum nur der erste Tag nach der Abfahrt des Pärchens in Frage, da nach deren Rückkehr am zweiten Tag schon alles aufgetrocknet war. Für den Nachmittag dieses ersten Tages, spätestens gegen Abend – jedenfalls noch bei Tageslicht – war daher auch der Rückkehrzeitpunkt des Nachbarn festzulegen.
Detektivarbeit
Blieb noch zu untersuchen, ob aus der Größe der vom Nachbarn festgestellten Wasserlache auf den Zeitraum des Wasseraustritts und damit auf die ausgetretene Wassermenge geschlossen werden kann. Aus den Schilderungen des Nachbarn ergab sich für die Wasserlache zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung unter großzügiger Annahme eine Wassermenge von etwa zweieinhalb Kubikmetern. Nun war natürlich auch Wasser versickert. In Anbetracht des stark verfestigten Wiesenbodens und des hohen Pflasteranteils wurde vereinfacht und wiederum eher großzügig angenommen, dass eben dieselbe Menge im Boden verschwunden sein könnte.
99,5 Prozent zu viel verrechnet
Machte zusammen fünf Kubikmeter, ein halbes Prozent der vom Wasserwerk vermuteten Größe. Eine Zurückrechnung über die mögliche Ausflussmenge ergab einen Zeitraum von rund sechs Stunden, in dem das Wasser ungehindert austreten konnte – also eine plausible Zeitspanne zwischen Mittag und Abend. Die Parteien akzeptierten das Ergebnis. Wie das Wasserwerk zu seiner Menge gekommen war? Nun, die Reihenhaus-Wohnsiedlung war im Laufe des Jahres sukzessive bezogen worden, den am Gemeinschaftszähler abgelesenen Mehrverbrauch hatte man halt vorsichtshalber gleich mal dem Pärchen zugeschlagen …