Wahrscheinlich jeder langjährig tätige Sachverständiger kennt Aufträge, die völlig unverfänglich beginnen und fast langweilige Routine versprechen, die dann aber durch unvorhersehbare Ereignisse oder überraschende Entwicklungen einen Verlauf nehmen, der ein Leben lang in Erinnerung bleibt. So auch dieser. In der Sache wollte das Gericht wissen, wie hoch der Wert einer Heizungs- und Sanitärinstallation anzusetzen sei im Nebengebäude auf der Liegenschaft in einem kleinen Ort irgendwo im malerisch-hügeligen Landstrich. Die Liegenschaft selbst befand sich zu gleichen Teilen im Eigentum von zwei Brüdern.
Also Anfahrt zum notwendigen Ortstermin zur Befundaufnahme. Beide Eigentümer waren anwesend, der ältere in Begleitung seiner Anwältin. Die Brüder hätten allein schon von ihrer äußerlichen Erscheinung her unterschiedlicher nicht sein können. Der ältere ein einfacher Mann vom Land, im Habitus eines gestandenen Arbeiters, vierschrötig, wortkarg, mit von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht und schwieligen Händen. Der andere hingegen ein arrivierter Zeitgenosse aus der großen Stadt mit elegantem und gepflegtem Äußeren, feingliedrig, charmant, in wohlgesetzten Worten und Sätzen parlierend.
Erst kühl und distanziert
Letzterer hatte sich zuvor mit elegantem Dreh dem schnittigen Wagen teuren italienischen Fabrikats entwunden, den er mit Sicherheitsabstand von einem wackeligen Schuppen und einigen am Grundstück lagernden Gerätschaften geparkt hatte. Bemerkenswerterweise hielten auch die beiden Parteien trotz ihrer gemeinsamen Herkunft deutlich Abstand voneinander, die Begrüßungsformalitäten beschränkten sich auf zivilisatorisch Rudimentäres, die Stimmung war gelinde gesagt eisig, jeder versuchte nebenbei diskret, mit mir unter vier Augen sprechen zu können, was wiederum meinerseits aufs Notwendigste einzubremsen war.
Was tun mit dem Erbe?
Der Anlass für die Zusammenkunft war für die Geschwister nicht angenehm. Die Mutter der beiden war einige Zeit zuvor verstorben, ihr Anwesen hatte sie zu gleichen Teilen ihren Söhnen vermacht. Das Haupthaus – das Elternhaus der beiden – stand seit dem Ableben der Mutter leer. Der jüngere Bruder hatte keinen Bezug mehr zur Liegenschaft, auch nicht oder nicht mehr zu seinem Anverwandten und drängte auf einen Verkauf. Das Nebenhaus, das es nun zu besichtigen galt, hatte sich der ältere Bruder in den Jahrzehnten zuvor mit seiner Frau als wohnliche Bleibe eingerichtet und mit vielen Eigenleistungen ausgebaut.
Besichtigung trotz Widerstand
Mit einem Verkauf der Liegenschaft ginge auch das Nebenhaus verloren. Der betroffene Bruder hatte dem bislang jede mögliche Art von Widerstand entgegengesetzt, wohl wissend, dass er nie in der Lage sein würde, neben seiner Bleibe auch das bereits in die Jahre gekommene Elternhaus zu erhalten, geschweige denn zu erneuern. Bei allem Widerstand musste er letztlich aber zugestehen, dass – egal ob Verkauf oder nicht – der Bruder den Wert der Objekte zu bestimmen wünschte und damit wegen einer Abgeltung auch das Ausmaß der Leistungen, die er in das Nebenhaus investiert hatte.
Keinerlei Unterlagen
Die Besichtigung begann im Heizraum, eher widerwillig gab der Hausherr Auskunft. Schriftliche Unterlagen oder gar Plandarstellungen waren allerdings keine vorhanden, kein Wunder, denn der erste äußere Eindruck vom Nebenhaus bestätigte sich im Innern: Hier hatte wirklich jemand sein Herz in bauliche und haustechnische Leistungen gelegt, für die das Prädikat eigenwillig durchaus angemessen schien. Sollte jemals ein Vertreter der lokalen Baubehörde das Haus betreten und danach ohne massive Bedenken wieder verlassen haben, wäre ihm dies wohl nur unter Aufbringung völliger Selbstverleugnung möglich gewesen.
Die Situation eskaliert
Indes hatte sich unter den Kontrahenten so etwas wie eine Unterhaltung entwickelt, die für den entfernt stehenden Zuhörer von Knurr- und Zischlauten dominiert zu sein schien. Die verbale Auseinandersetzung gewann allmählich an Lautstärke und an unerwarteter Dynamik. Auf der Suche nach Typenschildern hatte ich mich mühsam durch den Spalt zwischen Pufferspeicher und Warmwasserbereiter gezwängt, um an deren Rückseite zu gelangen. Die Erkundungstour wurde plötzlich durch dumpfe Geräusche und gepresstes Gekeuche unterbrochen, gefolgt von schrillen Schreien der beiden Frauen.
Hitzköpfe krachen zusammen
Die Kontrahenten hatten dem bis dahin sprichwörtlichen einen echten Schlagabtausch folgen lassen. Die beiden Frauen waren dazwischengegangen, hatten die Streithähne getrennt und vor ernsteren Beschädigungen bewahrt. Über meine zufällige Deckung hinter den Behältern im kritischen Moment war ich offen gestanden recht froh, ersparte sie mir doch die knifflige Entscheidung zur Frage, selber die Schlichterrolle zu übernehmen oder nicht. Nach meinem Wiederauftauchen am Ort der Auseinandersetzung konnte ich nur noch wahrnehmen, wie der Jüngere Kleidung und Haarpracht ordnete. Er hatte offenbar die Haupttreffer erhalten.
Trotz allem ein Gutachten
Die restliche Begehung war wegen der ob fehlender Unterlagen doch recht umfangreichen Erhebungen zeitaufwendig, verlief aber friktionsfrei und abgesehen von knappen Auskünften des Älteren weitgehend wortlos. Und bei der Verabschiedung versuchte wiederum jeder um ein paar Worte unter vier Augen …, na, Sie wissen schon. Das Gutachten konnte jedenfalls erstellt werden. Wie die Sache weiterging? Keine Ahnung. Der Ausgang eines Verfahrens hat den Sachverständigen nicht zu interessieren. Denn auch für ihn gilt das geflügelte Wort von Friedrich Schiller: „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen …“