„Soll ich in meinem Gutachten auf die zweiundzwanzig Mängelpunkte aus dem Schriftsatz des Beklagten einzeln eingehen? Doch nicht wirklich, oder? Außerdem weiß ich nicht, ob die alle tatsächlich mit dem Gerichtsauftrag zusammenhängen … was soll ich tun?“ Die Stimme des frischgebackenen Sachverständigen am Telefon klang ziemlich ratlos. Ein paar Gegenfragen brachten schließlich – hoffentlich für den Anrufer ausreichendes – Licht ins Dunkel. Zurück blieb wieder die Bestätigung der Tatsache, dass Fachwissen allein noch keinen richtigen Sachverständigen macht. Letzterer beherrscht eben auch den richtigen Umgang mit Unsicherheiten.
Was tun bei Unsicherheiten?
Unsicherheiten sind oft mit negativen Emotionen verbunden, deshalb kann es uns schwerfallen, sie zu benennen und zu artikulieren. Der junge Kollege hat deshalb richtig gehandelt, als er zum Telefon griff. Denn ein offenes Gespräch mit jemandem, dem man vertraut, kann Klarheit schaffen, was denn nun wirklich Sache ist. Andererseits sollte man aber selber in der Lage sein, Unklarheiten „auf eigene Faust“ zu beseitigen. Logisch erscheinen drei Schritte:
1. Sich über die Sachlage informieren
Die einfachste Informationsbeschaffung: Fragen stellen, nachfragen. Beispiel: Bei Unklarheiten betreffend die Fragestellung im Gutachtensauftrag – etwa den genauen Umfang der Befundaufnahmen, nicht verständliche juristische Formulierungen etc. – nicht lange herumrätseln, sondern umgehend den Richter oder sonstigen Auftraggeber fragen und um Klarstellung ersuchen.
(Dazu sei angemerkt, dass in unserem Land die Fragekultur noch etwas unterentwickelt ist, denn einerseits wird oft zu viel Wissen vorausgesetzt, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist und andererseits wird Nachfragen aus Unkenntnis oder Unverständnis mit Dummheit gleichgesetzt; häufigeres Fragen hat so gesehen etwas wie erzieherischen Charakter zu unser aller Vorteil.)
2. Selber nachdenken und abwägen
Hat man wenigstens die wichtigsten Informationen beisammen, bleiben höchstwahrscheinlich immer noch einzelne Unschärfen, mit denen man letztlich selber fertig werden muss, beispielsweise dann, wenn keine der vorhin befragten Personen weiterhelfen kann oder will. Es gilt, diese noch ungeklärten Zonen zu überdenken und mögliche Lösungsalternativen abzuwägen.
Was hier sehr kompliziert klingt ist sehr oft eine Entscheidungsfindung in wenigen Minuten, in der Intuition oder Bauchgefühl gewichtige Rollen spielen können. Pedantisches gedankliches Weitersuchen ist meist verlorener Aufwand. Hilfreich sein mag auch die Pareto-Regel, die hier so interpretiert werden könnte, dass man in den ersten 20 Prozent der Nachdenkzeit die wichtigsten 80 Prozent an Problemen in Griff bekommt.
3. Sich festlegen und dies begründen
Kommt man zur Entscheidung, die beste weitere Vorgangsweise herausgefunden zu haben, wird man sich auf diese festlegen. Es ist meist schon ein Gebot der Zeitökonomie, sich nicht auf Parallelvarianten einzulassen und sich dann womöglich im Dickicht von Argumentationen zu verheddern. Es ist zwar nicht immer möglich, solche zu liefern, aber Auftraggeber lieben klare und pointierte Aussagen.
Zu einer Festlegung gehört auch, dass man sie begründet und dies auch dokumentiert. Das ist wichtig für den Sachverständigen selbst, aber auch für Nachfragen durch andere, die gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt gestellt werden könnten.
Vorsicht bei Annahmen und Vermutungen!
Bei technischen Gutachten kann der Fall eintreten, dass Ereignisse oder Zusammenhänge nicht mehr eindeutig rekonstruiert werden können. Will man dann dennoch zu einer Erklärung oder Lösung der Problemstellung kommen, muss man Annahmen treffen. Komplexe Zusammenhänge lassen sich als Denk- oder Rechenmodelle darstellen und über Änderung von Parametern kann man versuchen, den realen Gegebenheiten möglichst nahe zu kommen. Wichtig ist aber, dass Annahmen als solche kenntlich gemacht werden und dass der Eindruck vermieden wird, es handle sich um Tatsachen.
Zuletzt sei noch eindringlich vor der Wiedergabe von Vermutungen als Tatsachen gewarnt. Bei Unsicherheiten ist man sehr oft bemüht, vorschnell nach Erklärungen zu suchen. Eine Vermutung ist aber nichts anderes als eine Behauptung, der die reale Grundlage fehlt. Und eine solche hat in einem Gutachten nichts zu suchen.
Eine besondere Spezies stellen in diesem Zusammenhang Aussagen von Parteien dar, die etwa anlässlich von Befundaufnahmen gegeben werden und die nicht nachprüfbar sind, von denen aber ein anwesender Rechtsvertreter verlangt, der Sachverständige möge sie gefälligst zu Protokoll nehmen. Das kann der Sachverständige ablehnen, da er zwar derartige Äußerungen durchaus im Rahmen seines Befundes wiedergeben kann, jedoch steht ihm nicht das Recht zu, Aussagen zu protokollieren, das ist und bleibt Sache des Gerichts.